Also, wenn ich mir anschaue, welche Dinge heute auf Menschen psychisch stark einschränkenden Auswirkungen haben, dann frage ich mich, wie man in der Vergangenheit sein Leben überhaupt ertragen konnte.

Natürlich, körperlicher Schaden (Beschneidung/Vergewaltigung) ist für einen Menschen niemals schön, und allein schon da es weh tut, sagt der biologische Imperativ: Vermeiden!
Aber bei den beschneidungswütigen Völkern (Frauenbeschneidung) sind es zum Beispiel die Frauen, die diesen Schaden an ihre Geschlechtsgenossinen weitergeben. Wenn diese Personen nun wüssten, dass das, was sie tun, eigentlich voll daneben ist , würden sie ihre Handlungsweise sicherlich ändern. Tun sie aber nicht.
(Mir ist klar, dass auch die Weitergabe eine Traumafolge ist - aber offensichtlich verdrängen sie ihren Leidensdruck mit ihren Methoden so weit, dass sie am Ende der Überzeugung sein können, ihre Handlung wäre gut und richtig)

Die Gesellschaft hat erhebliche Auswirkungen auf das Gefühlsleben eines Menschen und ergo auch darauf, wie er mit traumatischen Situationen umgeht.

Wenn man im Bewusstsein aufwächst, dass das Leben unsicher, hart und grausam ist, geht man mit Schicksalsschlägen ganz anders um als wenn man in einer Vollkasko-Gesellschaft lebt wie wir. Der Einzelne weiss, das Dinge wie Missernten, Krieg, Hunger und der ganze andere Mist an der Tagesordnung sind, und erlebt sie mehr oder weniger als "Alltag".
Wir tun das nicht. Da wir es nicht gewohnt sind, können wir es schlechter Wegstecken als Personen, die solche Leiden gut kennen.

Beispiel:
Ich habe auf der Rückfahrt von einem Mittelaltermarkt mal einen Rehunfall gehabt. Das Tier lag offensichtlich im Sterben, also habe ich ihm dabei geholfen, damit es nicht leiden musste.
Monate später unterhielt ich mich mit einer Bekannten darüber, die total ausflippte und meinte, dass man sowas nicht tun dürfte! Das arme Tier und so!
Allein schon durch meinen Anspruch an mich, mit solchen Situationen umgehen zu können, änderte sich meine Verarbeitung grundlegend. Wenn man sich aber mit solchen Dingen nie auseinandergesetzt hat, werfen einen selbst scheinbare Banalitäten aus der Bahn (ein totes Reh - wir essen dauernd Schweine und Kühe! Wo ist das Problem?).

In verstärkter Form gilt so was auch für wirklich schlimme Dinge. Natürlich ist die Traumaverarbeitung individuell unterschiedlich, aber Menschen mit einer "harten psychischen Konstitution", die die Härten des Lebens gewohnt sind (wie Personen im Mittelalter im Vergleich zu uns beispielsweise) sind logischerweise besser dafür geeignet als andere.
Von daher ist es nicht zu gewagt, einer mittelalterlichen Frau eine bessere Verarbeitung einer Vergewaltigung zuzuschreiben als einer modernen. Schön wird das Ereignis dadurch auch für sie noch lange nicht.

Gruß,
Hauke