Ich kaufe einen Einspruch für .50 Euro!
Als bekennender Vertreter der "Ja, ich gebs´ja zu das ich Schuld bin!" Generation erhebe ich Einspruch an folgenden Punkten:
1. Historischer Kontext
Stimmt so nicht. es gab bereits seit 1988 und früher die Möglichkeit die entsprechenden und passenden Gerätschaften zu erwerben, allerdings war der persönliche Aufwand für den Erwerb höher. Die "Szene" war beherrscht von einigen wenigen sehr großen und vielen sehr kleinen Firmen. Da überregionale Werbung ausfiel (meist aus Kostengründen, oft aus Mangel der Plattform wo sie dargeboten werden konnte) waren diese nur unzureichend bekannt und alles konzentrierte sich auf 1-2 Anbieter mit bekanntem Programm (und als Betreuer der Bestellabteilung und des Kataloges eines dieser Anbieter kann ich sagen das sich das Interesse an "authentischeren Waren" selbst zu niedrigeren Preisen stark in Grenzen hielt). Historische Schnitte waren nicht bekannt, konnten aber auf Wunsch sehr einfach über die SCA, existierende Mittelaltergruppen und Ähnliche beschafft werden. Selbst die Drachenschmiede hatte mit dem Drachenei in Hamburg vom Moment ihrer Gründung an Konkurrenz
2. Gewandung im Zeitkontext
Sehr subjektive Erfahrung. Kettenhemden konnten für etwa 90,-- DM selber gebaut werden (DAS geht übrigens immer noch, bedingt druch Teuerung kostet was mittlerweile allerdings ertwa 100,-- Euro), alleine in meinem Bekanntenkreis waren es etwa 20 Personen die das gemacht haben. Tschechenware kostete ab 400,-- aufwärts, maschinengestrickte englische Hemden etwa 600,--. Indische Hemden waren im Anrollen, die ersten wurden etwa 1990 importiert und kosteten dann etwa 200,-- DM. Helme etc. waren auf jedem durchschnittlichen MA Markt erhältlich, teilweise sogar auf Flohmärkten sehr günstig erwerbbar (es gibt Leute die sich damals für 200, - 400,-- DM Rüstungen aus der Historismus Periode erworben haben). Vollplatten waren selten weil viele den Weg zum Tschechischen Schmied für die Anprobe scheuten, da damals die dortigen Schmiede noch Berufsehre besassen und sich den Kunden bestellten um die Rüstung anzupassen. Da keine Regelsets existierten fielen sämtliche Rüstungoptimierer weg, die heute die Landschaft verschandeln. Lederpanzer wurden selber gemacht, allgemein war die Tendenz Dinge selber zu bauen sehr viel höher als heute. Da sind Leute auch wriklich noch losgezogen und haben auf dem Sperrmüll das alte Ledersofa geschreddert um Rüstungsleder zu bekommen. Und jeder 2. Larper wusste wie man Bundschuhe herstellt, warum man an manchen Stellen Leder doppellagig macht und was notwendig ist um Wolle wetterfest zu bekommen. Die "Bespaß mich!" Fraktion war noch nicht so vertreten. Historisch korrekt war innerhalb der damaligen Wissensparameter durchaus ein Ansatz vieler Gruppen.
Nachsatz: Was übrigens bei diesen Preisvergleichen immer hinkt ist die Basis, sprich die Vergleichbarkeit der Ware. Das oben aufgeführte Kettenhemd aus Schweissdraht, selber gewurmt und halbseitig flachgeschlagen, dann in 4 in 1 Technik verknüpft steht in Konkurrenz zu einem 1200,-- vernieteten Hemd aus USA, nicht zum 120,-- Euro Hemd aus Indien! Das macht es noch krasser was durch selber machen an Geld einzusparen ist. Leider steht die moderen Konsumentenmentalität dem entgegen, die sofotige Verfügbarkeit zum günstigsten Preis preferiert.
3. Gewandung 2004
In den letzten Jahren hat sich eine gewaltige Zulieferindustrie gebildet die unsäglichen Müll zu günstigsten Preisen verkauft und die, weil der durchschnittliche Anfänger nach wie vor wenig bis kein Geld hat, aber durch Gruppendruck und ~spielweise sich gezwungen sieht bereits am oberen Ende der Ausrüstungspirale einzusteigen, sehr großen Zulauf bekommt. Vergleichbar eigentlich im "realen Leben (TM)" mit dem Run auf die Billigkopien namhafter Kleidungsstücke.Jedesmal wenn ich Leute sehe die in ihren Billigrüstungen herumlaufen wie eine Blechwurst und sich ständig in der Gefahr bewegen duch ihre eigene Kleidung und Rüstung verletzt zu werden frage ich mich ob nicht wirklich ein TÜV Stempel für Rüstungen sinnvoll wäre.
Was eigentlich die Krux ist, in bestimmten Spielerkreisen ist das "Mühe geben!" vollkommen aus der Mode gekommen. Man will nichts mehr selber machen, sondern alles bequem kaufen. Dummerweise sind aber oft die finanziellen Mittel begrenzt und dann greift die früher wirksame "ersetze Geld durch eigene Arbeit" Strategie nicht mehr, weil es ja bequemerweise alles auch billiger gibt. Das billiger meist (besonders bei handwerklich gefertigten Dingen) nicht unbedingt besser bezeichnet ist in unserer industriell durchsetzten Gesellschaft bereits derart verdrängt, das sich niemand mehr darüber Gedanken macht.
4. Gewandungsarroganz
Ein üblicher Trugschluß. Die angeblich als Gewandungsarrogante Säcke beschriebenen sind meist garnicht die Gruppe die am heftigsten gegen Pannesamt und ähnliches wettert.
Es ist halt einfach so, das jemand so behandelt wird, wie er sich aufführt. Wer mir auf offenem Larp begegnet und ein T-Hemd trägt, das über seiner Jeans hängt, mit einem dicken Seil gegürtet ist an dem ein Lederbeutel hängt, dazu einigermaßen unauffällige Schuhe ohne Adidas Streifen, Puma Logo oder Nike Schriftzug, wird von mir als "Anfänger, hat wahrscheinlich wenig Geld für Ausrüstung, aber hat das Prinzip verstanden und versucht aus dem was er hat das Beste zu machen" eingestuft und ich kann mit ihm vollkommen normal spielen. Wenn derselbe Mensch mir nun erklärt, er sei der Prinz von Bergament und überhaupt ein ganz Toller und superwichtig/mächtig/gefährlich, lach ich ihn aus und geh weg. Das hab ich allerdings 1986 auch schon so gemacht.
Die schlimmsten "Das beleidigt mein Auge und mein Ambiente!" sind meiner Erfahrung nach grade die, deren Speigel wohl seit Jahren kaputt ist. Das "Splitter im Auge der Anderen, aber den Balken im eigenen übersehen!" Prinzip?
Der Anspruch an Gewandung und Ausrüstung ist immer zuerst ein Anspruch an einen selber. Wenn dann Andere dies als Beispiel nehmen und sich an einem derartigen Vorbild messen wollen, sich aber ungünstigerweise jemanden mit dem 15 fachen Monatseinkommen aussuchen ist das persönliches Pech und kein Grund dem dann Gewandungsarroganz vorzuwerfen nur weil er sich die besseren Sachen leisten kann. Und allfällige "Schnürlederhosen sind bäh!" Ausrufe falsch zu interpretieren ist ja auch beliebt, weil sich keiner die Mühe macht die logische Gegenfrage zu stellen: "Was mache ich dann wenn ich eine andere Hose haben will?" Da kommt nämlich bei ernsthaften Vertretern sofort die Antwort wie und was. Und komischerweise sind diese Hosen dann auch noch billiger, besonders wenn man sie selber macht. Sehr merkwürdig sowas. Aber das war ja wieder das mit dem "Mühe geben" (ich lass mir das übrigens grade eintragen :o))
5. Früher war alles besser (?)
Ach? das muß ein anderes "Früher" gewesen sein, als jenes das ich reflektiere.
Man vergleiche dazu:
http://larpwiki.de/cgi-bin/wiki.pl?GuteAlteZeit
Heute ist die absolute Zahl der Spieler höher, damit ist automatisch die Zahl derer höher auf deren Interessenindex Larp nicht Platz 1 ausmacht. Deren Bereitschaft selber Dinge zu tun, mag wenig ausgeprägt sein, gerade durch die Verfügbarkeit von Billigramsch wird diese auch nicht unbedingt gefördert.
Subjektiv betrachtet war füher ein größere Tendenz zum "Mühe geben" im Sinne von selber machen, eigene Phantasie einsetzen, kreativ werden feststellbar. In bestimmten Gruppen ist die immer noch da und teilweise wird sie sogar erheblich gesteigert (ich verweise hier immer gerne auf die Entwicklung speziell bei Orks, die teilweise vom einfachen Gummimaskenträger zu sehr liebevoll geschminkten und damit wesentlich realistischeren Figuren wurden). Das oft geschmähte "obere Ende der Spirale" also die furchtbaren Gewandungspäpste und Rüstungskenner zeichnen sich übrigens in zunehmendem Maß dadruch aus, das sie Sachen selber machen, schlicht weil der Markt die von ihnen geforderte Qualität einfach nicht hergibt, und zwar zu keinem Preis hergibt. Deswegen nimmt die Zahl derer, die sich Rüstungen selber bauen grade erheblich zu.
Fazit:
Wie Ralf so schön zitiert: Um es mit den Worten Erich Wiesners zu sagen: "Die gute alte Zeit ist nichts weiter als eine rückwärts datierte Utopie." Oder, anders formuliert, die geschilderte Problematik ist eine subjektive Beobachtung, die einer objektiven Untersuchung nicht standhält.
Gruß
Fred
Wer hat´s erfunden?
der Fred! Eh klar!