Hallo LARPIS!

So, in einem Monat jährt sich zum zehnten Mal mein erstes LARP, Zeit, zurückzublicken und mich zu fragen, was sich in den zehn Jahren verändert hat. Neben Effekte, Plots, Spielerzahl fiel mir am meisten auf: die Entwicklung der "Gewandungs-Arroganz" (siehe Thread "Fäntelalter" usw.).

1. Historischer Kontext:

LARP, Zuliefer-Industrie und Internet steckten 1994 noch in den Kinderschuhen. Die LARP-Szene war klein und überschaubar, "Hammerkunst", "LARP-Amory", "Ritterschmiede" etc. ein Fremdwort und das www als Quelle für historische Schnitte etc. kaum verbreitet.

2. Gewandung 1994 bis ca. 1999
"Gewandung" beschränkte sich hauptsächlich auf die mittlerweile vielverachteten Piratenhemden, Lederhosen und BW-Stiefel, gerne auch schwarze Jeans. Kettenhemden kosteten 600-1000 DM, Lederpanzer (beschlagen) 800-1200 DM, deshalb war Rüstung selten zu sehen im Vergleich zu den heutigen Vollplatte-Kohorten. Ein Char mit einem tschechischen Topfhelm war ein "Exot", beachtet, bestaunt und "woher, wie, wieviel???"-befragter Superheld. Selbstgebasteltes wurde zur Nachahmung empfohlen, rumgezeigt, was auch immer. Ansonsten hatte man, was man hatte. Historisch korrekt? Völlig wurst, Hauptsache es sah nicht "alltäglich" aus.

3. Gewandung 2004
In den letzten Jahren hat sich eine gewaltige Zuliefer-Industrie gebildet, mit herrlichen (!), hochqualitativen Kleider, Rüstungen. Dazu das www mit tausenden Schnittmustern, Tipps etc.
Jeder dritte hat mindestens ein Kettenhemd, oder Plattenteile, dazu schöne Tuniken, Stiefelwerk, Wadenwickel, Gambesons. Warum nicht? LARP ist zwar immer noch teuer, aber ein Kettenhemd für 120 Euro ist schon ein ganz anderer Schnack als früher. Und da man sich nicht mehr mühen muss, überhaupt was "ambientiges" zu haben, kann man sich über historische Korrektheit von z.B. Nordmanns-Kleidung Gedanken machen. Ein großer Schritt vom Fantasy-LARP zum Reanactment.

4. Gewandungsarroganz
Unzählige Spieler verfügen nun entweder über a) eine schimmernde Wehr von Kopf bis Fuß oder b) Gewandung wie aus der Zeitmaschiene gehüpft, korrekt bis hin zur mit Walbein-Nadel und Hanffaden genähten Leder-Schürze (Material geklaut aus dem Wikinger-Museum Haithabu...) oder c) beides. Unter diesen respektablen Zeitgenossen gibt es nun einige, die meinen, übrige Spieler auf niederem Kleidungsniveau verhöhnen, verachten oder ignorieren zu müssen.
Dein Gambeson ist zu 40 % aus Polyacryl? Ein Nordmann mit Plattenarmschienen? Ein Templer mit BW-Stiefeln? Ein Söldner mit Lederweste, Lederhose und selbstgetapter DIY-Kloppe? Schickt nach dem Inquisitor!
Du wagst es, eine halbe Stunde vor (!) Time-In in Metall-T-Shirt (respektive Eminem-T-Shirt) und BW-Seesack Dein 25-KG-Gepäck durchs Lager zu tragen? Hinfort, Ambientekiller!
Du schläfst nicht auf Stroh unter nassem Fell sondern in einem rosa Himalaya-Schlafsack (Komfort bis -25 Grad)? Con-Duscher!

5. Früher war alles besser (?)
Versteht mich nicht falsch, auch ich will keine Dämonen in Blue-Jeans und Metzger-Kette. Aber der Trend geht eindeutig zu LARP-Enactment und Konsum/Schneider/Bastel-Zwang, vergleichbar mit dem Marken-Zwang auf der Schule: "Du nix Adidas-Schuh, Du Außenseiter" gleich "Du nix Bundschuh sondern Bundeswehr-Schuh: Du nix mittelalterlich".
Früher war man begeistert, 200 (max) Gleichgesinnte in Fantasy-Montur zu treffen und die Tage zu genießen. Doch wie bei jedem Trend (Musik, Kultur...) entsteht bei einer gewissen kritischen Masse die Neigung zur Ausgrenzung. Gewandungs-Arroganz ist das eine, Char-Bashing (Kreuzritter, Monster), SC/NSC-Bashing oder Vorliebe-Bashing (Plotjäger, Con-Griller, Con-Biervernichter) das andere.

Gewiss hab ich ganz nostalgisch wesentliches verdrängt, aber definitiv war Mitte der 90er LARP noch ein Spiel und keine mit wachsendem Fanatismus betriebene Wissenschaft bzw. Modenschau.